Die Anfänge
Der Flachs gehört zu den ältesten Kulturpflanzen. Ein Flachsanbau in Ägypten ist bereits vor mehr als 6000 Jahren nachweisbar. Mit Arten, welche unseren heutigen Sorten schon sehr nahe waren gelang es, den Flachs zu Feinheiten (1 g Garn hatte eine Länge von bis zu 300 m) auszuspinnen, die heute trotz modernster Technik nicht mehr zu realisieren sind. Vor allem die feinen Flachsqualitäten waren den Priestern und Herrschern vorbehalten. Selbst ihre Toten wurden in Leinenbinden gewickelt und sind uns als Mumien erhalten. |
In der Literatur der Antike wird an verschiedenen Stellen auf Anbau und Verarbeitung von Flachs bei Griechen, Römern, Galliern und Germanen hingewiesen. Plinius beschreibt die Flachskultur der Gallier sowie der keltischen Bewohner des heutigen Belgiens und der Niederlande.
Im heutigen Deutschland finden sich in Pfahlbauten der späten Steinzeit (7500 bis 4200 Jahre vor unserer Zeit) am Bodensee sowohl Leinsaat als auch Flachsstroh und Flachsfasern. Dies waren zunächst Flachsarten, die mit den heutigen hinsichtlich Wachstum und Ertrag kaum zu vergleichen sind, oft war wohl eine Doppelnutzung von Leinsaat und Flachsfaser das Ziel der Menschen.
Jüngste Forschungen legen sogar nahe, dass bereits im Jung-Paläolithikum (40000 bis 8000 Jahre vor unserer Zeit Leinen verwebt wurde. Die etwa 30000 Jahre alten Venus-Figurinen zeigen, dass die Menschen wussten wie Pflanzenfasern zu Stoffen zu verweben waren, die vermutlich so fein wie Leinen waren.
In der frühen Eisenzeit (2800 bis 2000 Jahre vor unserer Zeit) war der Flachsanbau in Mittel- und Nordeuropa bis hin nach Schweden weit verbreitet. Tacitus schreibt davon, wie germanische Frauen den Flachs verweben. Spätestens zur Zeit der Völkerwanderung (etwa 375 n. Chr) wurden Leinengewänder zur germanischen Volkstracht. Dies fällt etwa zusammen mit der gesicherten Kultivierung des heutigen Schliessleins im 3. bis 5. Jahrhundert in Norddeutschland.
Das Mittelalter
Im Mittelalter spielte der Flachs eine bedeutende Rolle. Aus einem transportunwürdigen voluminösen landwirtschaftlichen Rohprodukt wurde durch viel Arbeit ein „komprimierter“ wertvoller Handelsartikel. Es kam zu einem blühenden Leinengewerbe vor allem in Gebieten, welche als sowohl ackerbauliche Grenzstandorte verstanden werden können, dem Flachs jedoch hinsichtlich Temperatur und Niederschlagsverteilung entgegen kamen (Schlesien, Westfalen, Schwaben). Der Aufstieg der Fugger zu einer Handelsmacht ist eng mit Leinen verbunden.Bereits im Mittelalter war die vielstufige Herstellungskette von Flachs bzw. Leinen weitgehend ausgefeilt und es ließen sich Qualitäten herstellen, die unsern heutigen kaum nachstanden. |
Es fand eine gewisse Spezialisierung statt: der Bauer bereitete den Boden und säte den Flachs ein, die Mägde zupften das Unkraut, zur Reife zogen die Knechte den Flachs aus der Erde während die Mägde ihn bündelten und trockneten. In Herbst und Winter, wenn auf den Feldern wenig zu tun war ging die Arbeiten weiter: der Flachs wurde von den erfahrensten Knechten und Mägden in Wasserkuhlen geröstet, dann gedörrt und gebrochen. Sodann wurden die Fasern isoliert („geschwungen“) und verfeinert („gehechelt“). Schliesslich wurde aus dem gehechelten Flachs das Leinengarn ersponnen und dann zu Leinenstoffen verwebt. Alle Arbeiten waren direkt um oder auf dem bäuerlichen Hof mit einfachsten Maschinen und Geräten auszuführen. Häufig war die Herstelllung von Leinenstoffen die einzige Möglichkeit einer Magd an bares Geld zu kommen. Neben Kost und Logis stand ihr häufig nur ein Flachsdeputat zu, welches vom Bauern eingesät wurde und ihr in Folge gänzlich überlassen blieb. Das Garn oder der fertige Stoff konnte dann fahrenden Händlern verkauft werden. Je kleiner der Hof desto stärker war auch das bäuerliche Paar in die unmittelbare Arbeit der Leinenherstellung verstrickt: musste mangels Personal bereits von früh an selbst gesponnen werden, stand es oft nicht gut um die bäuerliche Wirtschaft. („Spinnen am Morgen – Kummer und Sorgen, Spinnen am Abend- erquickend und labend“)
Leinen fand seinen Weg in alle Bereiche des täglichen Lebens: von der Windel bis zum Totenkleid begleitete es den Menschen hautnah. Bett und Tischwäsche waren aus Leinen, Planen ebenso wie Gurte und Binden. Ein Teil der Fasern diente als Polstermaterial (Polsterwerg) oder – geteert – zum Abdichten von Schiffen oder Bottichen (Hede) Die Leinsaat und das aus ihr gepresste Leinöl war ein begehrtes Nahrungs- und Stärkungsmittel, die Holzteile aus dem Innern der Pflanze wurden verheizt. Die Gemälde des Mittelalters wären längst verblichen, hätten sie die Künstler nicht mit Leinölfirnis geschützt. Selbst in der Medizin wurde Leinen eingesetzt. Erhitzte Leinenbinden dienten zur Wundabdeckung, das bei der Herstellung extrahierbare Flachswachs wurde zum Bestandteil von Brandsalben. Was Wunder wenn eine so allgegenwärtige eigene Welt für hunderte von Jahren Sprache und Kultur prägt: noch heute kennen wir „eine Fahrt ins Blaue“ (früher ein Besuch des blühenden Flachsfeldes) wir „flachsen“ wenn wir Spaß machen, wir „hecheln“ ein Thema durch wenn wir es immer wieder und von allen Seiten bearbeiten wie unsere Vorfahren dies mit einer Handvolle Flachsfasern taten.
Die Neuzeit
Der Übergang von der bäuerlichen Flachs- und Leinenproduktion über Manufakturen bis hin in die großindustrielle Produktion verlief bei Leinen alles andere als reibungslos. Eine zunehmende Spezialisierung gegen Ende des Mittelalters hatte unter anderen viele Kleinbauern zu Hauswebern werden lassen, die mit zugekauftem Garn Stoffe herstellten oder solche mit fremdem Garn auf Handwebstühlen im Lohn webten. Mit dem Aufkommen der viel leistungsfähigeren mechanischen Schützenwebstühle sanken die Erlöse der Arbeit unerträglich, ganze Gegenden fielen in Armut, die sich in verzweifelten Weberaufständen Luft machte. Doch vergebens: die Zeit ging über die Hausweber hinweg, doch auch die neuen, großen Webereien mit all ihren Auswüchsen wie Kinderarbeit und gnadenloser Ausbeutung einerseits und ersten sozialen Errungenschafte wie Werkswohnungen und freien Schulen andererseits sahen schon bald düstere Wolken am Horizont: die Baumwolle. |
Trotz Ansporn durch gewaltige Belohungen ausgesetzt von Staat und Wirtschaft waren Wissenschaft und Technik nicht fähig, eine auch nur entfernt vergleichbare Dynamik der maschinellen Entwicklung der Leinenproduktion wie die überaus rasante der Baumwollproduktion zu schaffen. Sicherlich, die aufwändigen und riskanten Schritte der Faserfreilegung von Flachs waren bei der Baumwolle so gar nicht notwendig, da deren Samenhaare bereits die spinnfähigen Fasern darstellen. Jedoch auch die nachfolgenden Schritte der Garnherstellung waren bei der Baumwolle etwa um Faktor 10 schneller und damit billiger zu realisieren als beim Leinen. Selbst das Weben war mit Baumwolle aufgrund deren höheren Dehnbarkeit mit größerer Geschwindigkeit und daher billiger zu realisieren. So gesehen verlor Leinen zunehmend an Boden – nicht etwa weil die Baumwolle Produkte höherer Qualität lieferte, sondern weil diese einfach billiger waren. In Krisenzeit jedoch erinnerte man sich stets immer dann des Leinens, wenn Baumwolle nicht ohne weiteres verfügbar war. Zur Kontinentalblockade, im ersten und im zweiten Weltkrieg erlebte Leinen jeweils eine hitzige Renaissance. Die fünfziger und sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts erdrückten mit dem Aufkommen von Synthetics die Reste der noch bestehenden Infrastruktur. In den Augen dieser Zeit war ein bügelfreies Nyltesthemd einem knitternden Leinenhemd eindeutig vorzuziehen. Und falls an heißen Tagen der Körpergeruch zu deutlich wurde – es gab neuerdings auch Deodorants.
Jede Bewegung führt zu einer Gegenbewegung: konnten einerseits Gegenstände des täglichen Bedarfs wie beispielsweise Kleidung gar nicht billig genug sein, so gab und gibt es auf der anderen Seite auch immer mehr Menschen die Qualität schätzen und auch dafür angemessen bezahlen. Wie einst im alten Ägypten hielt Leinen erneut Einzug in die Mode und das Haus; diesmal nicht für die Herrscher sondern für die Reichen und die Schönen.
Nun ist in den letzten Jahren nicht eine kriegerische Auseinandersetzung oder politische Krise der Auslöser einer politischen und wirtschaftlichen Rückbesinnung auf Flachs und Leinen. Dieses Mal ist es eine ökologische Krise welche einem nachwachsenden Rohstoff in einer Zeit der endlichen Ressourcen und der globalen Erwärmung die Tür öffnet. Ob Leinen dort hindurch gehen wird?